Streit zwischen den Erben des Bürgermeisters David Gall

Archival des Monats

Am 19.10.1705 starb Franz Gall und ein Vierteljahr darauf am 20.1.1706 sein Bruder Hans David Gall, der mit großem Erfolg die Gallsche Handelsgesellschaft führte und über 20 Jahre als Bürgermeister an der Spitze der Stadt stand. Sein Bruder Franz Gall war als Zeugmacher weniger erfolgreich und hatte bei seinem Tod 387 Gulden Schulden bei seinem älteren Bruder. Kurz vor seinem Tod im Oktober 1705 rang er dem Bruder das Versprechen ab, dass dieser seiner Familie die Schulden erlasse.

Darüber entstand in den folgenden Jahren ein Rechtsstreit, weil die Erben des Hans David Gall zum einen den Schuldenerlass nicht anerkennen wollten und ihrerseits Zahlungen an die Nachkommen des Franz Gall verweigerten und weil sie zum andern einen Präzedenzfall bezüglich des in der städtischen Verfassung festgehaltenen Erbrechts schaffen wollten.
Ursache für den jahrelangen Streit war ein fehlendes Papier, das den Schuldenerlass hätte bezeugen können. Diesen schriftlichen Beleg hatte es gegeben, er war nur nicht mehr auffindbar. Als Zeuge wurde nun der Kapuzinermönch Michael hinzugezogen, der inzwischen längst nicht mehr in Weil der Stadt sondern bei den Kapuzinern in Meßkirch zuhause war. Pater Michael hatte Franz Gall auf seinem Sterbebett begleitet und war Zeuge des Schuldennachlasses gewesen. Er hatte damals auch darauf hingewirkt, dass der Schuldenerlass schriftlich beurkundet wurde.
Das Zeugnis des Paters als eines Kirchenmanns konnte schwerlich in Zweifel gezogen werden, damit hätte die klagende Partei die Kirche als die Grundsäule des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaftssystems und moralische Autorität, wenn es um Wahrheitsfragen ging, in Frage gestellt.

Die Erben des David Gall und ihr Anwalt versuchten es nun auf einem anderen Weg. Sie stellten die Frage, ob Bürgermeister Gall überhaupt dazu berechtigt war, eine Schenkung an seinen Bruder zu machen. Diese Frage berührte das Weil der Städter Erbrecht, das in den reichsstädtischen Statuten schriftlich festgelegt war.
Damit wurde der zivilrechtliche Erbschaftsstreit zu einem Problem, der die städtische Verfassung betraf und mit entsprechender Sorgfalt zu behandeln war. Es dauerte dann auch bis zum Oktober 1718, bis der Rechtsstreit entschieden wurde. Auf ein Gutachten, eingeholt bei der juristischen Fakultät in Tübingen, wurde der Schuldennachlass von 1705 als rechtens anerkannt und die gegenseitigen finanziellen Ansprüche und Unkosten, die in der Zwischenzeit entstanden waren, wurden als ausgeglichen und nichtig bewertet.

Kopie des Schreibenß von Reverendo Patre Michaele Capucinorum an Reverendo Joachim, auch Capucinorum, dato Mösskirch den 9ten Februarii 1711[1]



Transkription[2]:

„Copia verteutschten Schreibenß von Herrn Pater Michel Capuciner an Herrn Pater Joachim auch Capuciner, abgelasßen von Mösßkirch 9. Februar 1711
Ich kan nit abstein Ewer Ehrwürde auf dero billichiste Begehren zu antworten, wie die Sache an sich selbsten ist. Ich kan niemand nutzlich und mir oder dem heyligen Orden schädlich sein. Dahero waß ich mich offenherzig ercläre, daß gehöret nicht vor dißer Welt Gericht, sondern vilmehr vor jeneß im Himmel. Masßen zu disßortigem Streit Gericht ich keine Zeugschaft geben kan, deßwegen protestir ich, wan Ewer Ehrwürden dißen Zyttel wolte durch sich oder jemand anderen dem weltlichen Gericht behändigen lasßen. Doch auß Liebe vielmehr zum Nutzen der Bürgermeister Gallischen, sovil eß daß Gewisßen betrifft, sage ich, mir wohl erinnerlich zu ßein, daß der Zeugmacher ßeelig, deß Bürgermeisterß Bruder kurz vor seinem Hinscheiden in diße außtrukhliche Wort herfürgebrochen: er wolte gern sterben, wan nur sein Brueder (daß ist Herr Bürgermeister Gall) ihme seine Schuld thäte schencken, worüber ich mich zum Bürgermeister verfieget und disen letzten Willen vorgetragen habe, auf welcheß besagter Bürgermeister geantwortet: er solle deßwegen getröstet sterben, nicht nur allein dißeß solle nachgelasßen ßein, sondern er wolle noch yber dißeß ein nahmhafteß seinen Nachkomlingen

[1] Die Abschrift ist zweisprachig in Latein und Deutsch abgefasst, die Transkription folgt dem deutschen Text
[2] Buchstabengetreue Transkription, die Groß- und Kleinschreibung sowie die Zeichensetzung sind dem heutigen Gebrauch angepasst, allgemein verständliche Abkürzungen ausgeschrieben, sonstige Abkürzungen und Textergänzungen in eckigen Klammern


hinterlasßen. Und dißeß hab ich schriftlich verlanget, welcher gleicheß zuegesagt und ein Zetteln an ihne zu ybertragen mir zu Handen gestellet hat, welcheß ich ihnen behändiget habe mit dißer ernstlicher Erinnerung, daß ßolcheß bey Handen halten möchten. Warumb seind sie nun für ihren aigenen Nutzen so achtloße und gar hinläßige Leüth, daß sie ihre Sachen so liederlich verwahren? Und dißeß kan Ewer Ehrwürden denen Gallischen auf deß Bürgermeisters Seithen sagen, so vil den Himmel und das Gewisßen eß antrifft, umb in dem Sterbestündlein nit beschwähret zu werden, gestalten ich dißeß auß Liebe zu offenbaren schuldig bin, mit nochmaliger, ja dreyfacher Protestation, daß ich kein Zeug ßein wolle vor Gericht auf dieser Welt, sondern allein bey jenem im Himmel. Dan dißeß gehet mich allein an, die ybrige Strittigkeiten aber mitnichten. Deßwegen Ewer Ehrwürden die Gegenparthey mit allem Ernst ermahnen solle, dan waß konte ich für einen Gewinn hoffen von denen armen Waißen, die ich auß keiner Absicht oder Gemüthsnaigung unterstütze, sonder ich bekhenne vor Gott und denen Menschen die lautere Warheit. Gott ist mein Zeug und die Warheit selbsten.
Euer Ehrwürden
getreyester geringster Diener und Bruder Michael, unwürdiger Capuciner
Mößkirch, den 9.Februarii 1711

Gutachten der juristischen Fakultät der Universität Tübingen vom 15.10.1718


In nomine Jesu
 
Nachdeme wir subsignirte Juristen-Fakultat bey fürstlich Württembergischer Universitat Tübinngen verordnete Decanus und andere Doctores gebührendt ersucht worden, die in vorgesetztem Innhalt an unser Collegium überschickte Fragen in reiffes und fleissiges Bedenckhen zu nehmen und fürnehmlich über nechst praemittirte Question unser rechtliche Gedanckhen zu aperiren[1], so haben wir nach unsern obhabenden Amtspflichten uns nicht sollen entbrechen alles fleissig durchzulesen und sorgfältig zu erwägen, auch in angestellt collegialischer Berathschlagung hienach folgender Gedanckhen uns per unanimia[2] verglichen wie bey jeder quastion absonderlich anbemerkht. So viel nun betrift die erste Quastion, ob nehmlich der seelige Bur-
[1] eröffnen
[2] einstimmig


germeister Gall die 387 Gulden habe so schlechterdingen hinschenkhen und also diese rei alienae donatio  (wie solches hier will angesehen werden) subsistiren können, und ob auch der Beklagte Theil in totum oder nur pro parte von dieser  an ihne gehabten Schuldforderung uff Abschwur des uff den Fall referirenden juramenti judicalis zu absolviren seye?
So halten wir, was diese erste Quastion anbelangt unamiter davor, daß es ein vor allemahl bey dem obigen deciso[1] sein verbleiben habe und ist diese von dem seeligen Bürgermeister gethane Schenkhung nullo modo umbzustossen, sondern hat vielmehr (modo prius juramento confirmetur) ihr
[1] Entscheidung, Beschluss


genugsame Richtigkeit, ob sie aber tanquam rei aliena donatio müsse consideriret werden, dieses will sich keinesweegs hieher reimen, massen der von ihme hinterlassenen Wittib an ihrer portione statutaria des Schriftstellers widrigen Vorgeben und ein Bildung noch ohngeachtet im geringsten nichts abgehet, sondern der seelige Burgermeister solche 387 fl nur allein von dem seinigen geschenckhet. [...]

[...]


[...] Welchem allem nach diese Sach durch nachstehende Urthel, die wir selbst im Fall tragenden richterlichen Ambtsergehen zulassen, kein Bedenckhen tragen wolten, ihr abhelffliche Masse gegeben werden könnte.
Urthel
In Sachen sich haltend zwischen Klägern an einem undt
Beklagten andern Theils wird hiemit auff Klag, Antwortt, auch all andere gerichtliche Vor- und Anbringen nach gethanem


Rechtsatz genommenem Bedacht und eingehohltem Rath mit Urthel zu Recht erkandt, daß bey der von Herrn Burgermeistern Hanß Davidt Gallen seelig, seinem Bruder Franz und dessen Weib und  Kindern erlassenen Schuldt à 387 Gulden (wofern vorher das juramentum judiviale behörigermassen abgeschworen worden) es sein Verbleiben haben, die von beyden Theilen aufgewandte Ankosten aber aus bewegender Ursachen gegeneinander billich compensirt und aussgehoben seyn sollen.
Dieses haben wir auf das Kürzeste es seyn mögen, ferner auf Verlangen anhand gegeben, so wie es der Sachen Beschaffenheit und denen Rechten gemäß nicht ermangeln wollen in Urkund unsers gewohnlichen Insiegels
Actu Tübingen in collegio nostro den 15 Octobris 1718
Decanus und andere Doctores der Juristen Facultat bey hochfürstlich württembergischen Universitat alhier.“